Welcher Film läuft hier eigentlich gerade – und wer führt Regie?

Essay


Es ist eine unwirkliche Situation, die wir in den letzten Wochen erleben. Unwirklich, weil in unserem Gedächtnis keine vergleichbare Lebenserfahrung zu finden ist, die als Referenz dienen könnte. Keine konkrete Erinnerung, die uns sagt, das kennst du doch: wenn du jetzt nur diese und jene Schritte machst, wird alles wieder gut. Und auch andere, die wir fragen, haben da wenig zu bieten, was uns Sicherheit oder Gelassenheit verschaffen könnte. Kein Wunder also, dass es uns so vorkommt, als bewegten wir uns in einer Fiktion. Bilder verwaister Innenstädte, leergekaufter Supermarktregale und Konvois von Militärfahrzeugen, die Tote transportieren, weil das Fassungsvermögen des örtlichen Krematoriums erreicht ist, können wir uns zwar als dramaturgische Szenen eines Katastrophenfilms vorstellen, aber nicht in unserer unmittelbaren Nähe oder in vertrauten Städten, die wir von eigenen Besuchen nur zu gut kennen. So ist die Aussage, die wir in diesen Tagen häufig hören: „Ich komme mir vor, wie im Film“ mehr als nachvollziehbar.

Aber diese Analogie zum Film kann viel mehr sein, als nur ein Ausspruch, der die gefühlte Unwirklichkeit und ein Gefühl des Ausgeliefertseins ausdrückt. Wenn wir ihr weiter folgen, können wir Ressourcen und Möglichkeiten sehen, uns selbst psychologisch durch diese Zeiten zu navigieren. Wir übernehmen zumindest wieder ein Stück weit die Regie für den eigenen Lebensfilm.

Alleine schon die Überlegungen und die Auseinandersetzung damit, was wir aus der Filmwelt für unsere Situation entnehmen können, lässt uns mit Lösungen beschäftigen anstatt mit Problemen. Dieser spielerisch wirkende Wechsel der Perspektive bringt eine wohltuende Distanz, die Stress reduziert und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.

Für welche Situationen meines Alltags kann ich selbst die Regie übernehmen?

Sich nicht als hilflos zu erleben, sondern selbst-wirksam zu fühlen, also Einfluss nehmen zu können auf die eigene Situation, ist von großer Bedeutung für unser psychisches Wohlbefinden. Sicherlich haben nur die wenigsten von uns Einfluss auf das große Drehbuch und die Gestaltung des Schlusskapitels. Hier sind Wissenschaftler, Pharmazieunternehmer, Politiker gefragt. Aber in jedem Film, in jeder Serie dominiert nicht nur der Haupterzählstrang. Nebenstränge und persönliche Geschichten sind ebenso wichtig: die Geschichten in der Geschichte. Für Ihre sehr persönliche Geschichte innerhalb der großen Story sollten Sie in den nächsten Wochen selbst das Drehbuch schreiben und die Regie übernehmen! Unabhängig davon, ob die große Geschichte chaotische Züge annimmt und von Instabilität gezeichnet ist, können Sie in Ihren Alltag durch Rituale und feste Pläne Struktur und Stabilität bringen. Sorgen Sie hierdurch für die innere Ordnung als notwendigen Gegenspieler zu den äußeren Unberechenbarkeiten.

Die Perspektive entscheidet, was wir fühlen

Aber ohne Kamera und die, von ihr eingefangenen, Bilder gäbe es keinen Film. Die emotionale Wirkung von einzelnen Szenen, wie auch eines ganzen Films wird wesentlich durch die Perspektiven, Einstellungen, Ausschnitte und Fahrten mit der Kamera erzeugt. Geschichten werden durch sie erst sichtbar und erzeugen die gewünschten Gefühle beim Zuschauer. Der Blick von oben, aus der sogenannten Vogelperspektive, lässt uns Distanz zum Geschehen erleben und gibt einen Überblick über Zusammenhänge, der ein Gesamtbild möglich macht. Emotionaler wird es, wenn die Kamera nah heranzoomt, Details sichtbar werden. Das Geschehen rückt näher an uns heran, vielleicht sogar überdimensioniert und füllt oft nicht nur Leinwand und Bildschirm, sondern auch uns als Zuschauer gänzlich aus. So wie die gezielte Arbeit der Kameraleute die Emotionen der Zuschauer beeinflusst, so können wir selbst durch einen bewussten Umgang damit, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, unsere eigenen Emotionen steuern. Wir sind ihnen nicht einfach ausgeliefert. Lassen Sie sich durch die Medien nicht mit Bildern füllen, die nachvollziehbare Angst, Sorge oder Unsicherheit noch zusätzlich verstärken und deren Interesse darin besteht aus Sensationsbildern Profit zu schlagen. Schwenken Sie dann die eigene Kamera und richten damit Ihre Aufmerksamkeit auf sachliche Informationen, die einen distanzierten Überblick verschaffen, oder noch besser auf zuversichtliche, hoffnungsvolle Artikel und Sendungen. Und die gibt es. Die auflagenstärkste italienische Tageszeitung Corriere della Sera macht es uns vor und bringt einmal wöchentlich vierzig Seiten gute Nachrichten – Buone Notizie, auch in diesen Zeiten. Es geht also. Gehen Sie auf die Suche hiernach und richten Ihren Fokus darauf, es wird Ihnen besser gehen.

Hinzu kommt, dass die eingenommene Perspektive erst unsere subjektive Wirklichkeit entstehen lässt. Scheinbar dasselbe Geschehen, derselbe Gegenstand stellen sich aus verschiedenen Blickwinkeln komplett anders dar. Hiervon leben Filme, so erzeugen sie Spannung, lassen uns als Zuschauer unsicher werden, was denn nun „wahr“ ist. Aber diese Frage verbietet sich zumeist im Alltag. Wahr ist, was wir selbst wahr-nehmen. Auf sehr anschauliche Weise hat dies die Künstlerin Mia Florentine Weiss in einer sieben Meter langen und über drei Meter hohen Installation gestalterisch umgesetzt. Das Kunstwerk wurde im vergangenen Jahr in verschiedenen europäischen Städten ausgestellt. Von der einen Seite betrachtet liest der Betrachter in geschwungenen Buchstaben das Wort Love. Von der gegenüberliegenden Seite stellt sich derselbe Schriftzug als Hate dar. Für mich macht diese Skulptur nicht nur anschaulich deutlich, wie nah gegensätzliche Emotionen zusammenliegen, sondern auch, dass wirkliches Verstehen unseres Gegenübers erst möglich wird, wenn wir uns darauf einlassen, was er oder sie wahr-nimmt.

Gerade in Krisenzeiten ist ein Miteinander und gegenseitiges Verständnis notwendig, um nicht durch unnötige Konflikte zusätzliche Baustellen aufzumachen. Schultern Sie also die imaginative Kamera, gehen Sie herum auf die andere Seite und schaffen damit die Voraussetzung für echtes Verstehen und entdecken möglicherweise sogar eine Perspektive, die neu für Sie ist und Ihnen selbst guttut.

Häufig unterschätzt: der kluge Schnitt

Vom Kinozuschauer oft wenig beachtet ist der kluge Schnitt eines Films. Er bestimmt die Abfolge, die Zusammensetzung und die Dauer von Szenen und Blickwinkeln und schafft damit die Voraussetzung dafür, dass sich die Wirkung der Bilder überhaupt erst entfalten kann. Nicht umsonst gibt es auch hierfür alljährlich einen begehrten Academy Award, besser bekannt als Oscar. Schnitt und Kamera gehören zusammen. Eine noch so wunderbare Kameraeinstellung kann - zu lang gezeigt - im wahrsten Sinne des Wortes zu Langweile führen. Eine zu schnelle Schnittfolge macht die notwendige Orientierung zunichte und zu viele Szenen aus einem und demselben Blickwinkel lässt die differenzierte Betrachtung und Vielfalt zu Einfalt verkommen. Sorgen Sie – nicht nur in diesen Zeiten - für die angemessene Dauer und Abwechslung der Szenen in Ihrem Alltag.

Natürlich ist es wichtig sich zu informieren und auf dem Laufenden zu halten. Aber ein Zappen von einer Nachrichtensendung zur nächsten, nur unterbrochen von einer Talkshow zum selben Thema und zwischendurch der Blick auf die fallenden Börsenkurse, die steigenden Arbeitslosenzahlen und die düsteren Prognosen der Wirtschaftsinstitute. Die nahtlose Aneinanderreihung dieser Szenen, tut uns nicht gut. Sie lässt Stress entstehen und lässt keine Möglichkeiten zu, ihn abzubauen. Also SCHNITT, neue Szene. Den Blick auf die äußere Situation immer mal wieder für ein paar Minuten bewusst unterbrechen und sich um sich selbst kümmern.

Eine Möglichkeit ist, die Aufmerksamkeit nur nach innen, auf die eigene Atmung zu richten. Dass die Gedanken zwischenzeitlich abschweifen, ist natürlich. Sobald Sie es merken, wieder SCHNITT und erneut Aufmerksamkeit auf die eigene Atmung. Schaffen Sie sich diese kurzen Sequenzen, täglich ein paar Minuten, vielleicht sogar mehrmals. Konsequent umgesetzt, steigert diese Innenperspektive bereits nach kurzer Zeit nachweislich die Stressresistenz. Oder Szenenwechsel, raus, nach draußen, sich bewegen. Auch sportliche Betätigung sorgt für Abbau der Stresshormone, die sich ganz natürlicherweise bei intensiver Beschäftigung mit belastenden Situationen im Blut ansammeln.

Dehnen Sie Momente aus, die Ihnen guttun. Sagen Sie STOPP, SCHNITT, wenn Sie merken, jetzt wird es mir zu viel und wechseln die Szene.

Wenn Sie also das nächste Mal in der wohlgeordneten Schlange beim Bäcker oder Metzger den Ausspruch hören: „Ich komme mir vor wie im Film“, nehmen Sie dies als Impuls, um auch andere davon zu überzeugen, dass wir diesen Film zumindest zum Teil mitgestalten. Für viele Szenen des Alltags schreiben wir selbst das Drehbuch, sitzen wir selbst auf dem Regiestuhl, steuern wir die Aufmerksamkeit unserer inneren Kamera und können „STOPP“ oder „SCHNITT“ sagen, wenn uns etwas zu viel wird.

Machen Sie sich immer wieder Ihre eigenen Möglichkeiten bewusst und drehen Sie jeden Tag Ihre eigenen Szenen so, dass Sie Energie und Zuversicht daraus ziehen. In diesem Sinne: Film ab!

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